Politikwissenschafter Çopur ist von der türkischen Opposition überrascht worden. Die Zeichen deuten auf einen "Machtwechsel" in Ankara. Erdoğan könne nur mehr destabilisieren und manipulieren. Das Oppositionsbündnis sende hingegen nach innen und nach außen positive Signale.
Seit 1994 hat Erdoğan persönlich noch nie eine Wahl verloren. Noch nie ist Erdoğan so nah an einer Wahlniederlage gewesen. Er regiert die Türkei zunehmend autoritär. “Ein letztes Mal”, sagt er, solle man ihm das Vertrauen schenken. Das hat er schon mal behauptet, doch dann war die Macht nicht aufzugeben. Für manche Beobachter steckt aber in dieser Ankündigung eine versteckte Botschaft. Er wolle nicht wieder wählen lassen und diktatorisch durchregieren. Wie der starke Mann von Beştepe in eine Schicksalswahl hinsteuert und wieso sich das diesmal nicht ausgehen könnte, erklärt der Essener Politikwissenschaftler und Türkei-Experte Burak Çopur dem Kronos.
Herr Professor, ist der „allmächtige“ Erdoğan jetzt doch nicht mehr allmächtig?
Das könnte man so sagen. Allerdings herrscht in Teilen der deutschsprachigen Medien immer noch große Verwirrung und Irritation. Viele Journalisten und Beobachter sind sich unsicher, wie sie derzeit die politischen Entwicklungen in der Türkei einordnen sollen. Einige Türkei-Kenner sind immer noch von dem Gedanken eines unbesiegbaren allmächtigen Erdoğans beeinflusst.
Doch spätestens mit der İstanbuler Oberbürgermeisterwahl im Jahr 2019 ist diese Vorstellung über Erdoğan ins Wanken geraten und aktuell mit der Rückkehr von Meral Akşener in das Sechser-Bündnis und der Wiedervereinigung der Opposition wenig überzeugend. Ich selbst war auch immer ein politischer Mahner und Skeptiker der türkischen Opposition, aber auch ich habe meine wissenschaftliche Position aufgrund der neuen Entwicklungen in der türkischen Opposition überdenken müssen und bin jetzt optimistisch, was die Chancen eines Machtwechsels durch die Opposition angeht.
Wieso haben Sie die Position geändert?
Zum einen gibt es einen starken Schulterschluss innerhalb der türkischen Opposition. Das Sechser-Bündnis hat sich mit einem starken Präsidentschaftskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu und mit zwei möglichen stellvertretenden Präsidenten Ekrem İmamoğlu (OB Istanbul) und Mansur Yavaş (OB Ankara) sehr gut aufgestellt und bietet Erdoğan erfolgreich die Stirn.
Ein zweites wichtiges Oppositionsbündnis ist das unter der prokurdischen HDP und linken Parteien, das ebenfalls mit rund 10% der Stimmen bei der Präsidentschaftswahl eine Schlüsselrolle hat und zum Königsmacher werden kann. Hinzu kommt, dass sich Kılıçdaroğlu auch mit der HDP öffentlich getroffen hat und höchstwahrscheinlich die HDP die Präsidentschaftskandidatur von Kılıçdaroğlu unterstützen wird, ohne einen eigenen Kandidaten aufzustellen.
Und nicht zuletzt unterstützen Erdoğan auch Weggefährte, wie der ehemalige stellvertretende Ministerpräsident Mehmet Şimşek, nicht mehr. Er lehnte eine Nominierung für einen Stellvertreterposten des Präsidenten kürzlich ab. Seine Unterstützung für die Volksallianz unter Erdoğan hat auch der Vorsitzende der Yeniden Refah Partei Fatih Erbakan, der Sohn des verstorbenen Necmettin Erbakan, versagt.
Schaut Erdoğan dieser Entwicklung nur zu?
So wie ich Erdoğan einschätze, wird er der letzte Politiker sein, der seiner Niederlage nur noch entgegensieht und seine Abwahl tatenlos abwartet. Ich gehe davon aus, dass er in den nächsten zwei Monaten der Opposition noch viele Knüppel zwischen die Beine werfen und vermutlich das Land weiterhin destabilisieren wird.
Bekommt er hier Unterstützung von anderen Kräften in der Türkei oder geht er den Weg alleine?
Keineswegs, Erdoğan agiert im Namen seines Bündnisses der Volksallianz mit der rechtsextremistischen MHP, der ultra-kemalistischen Vatan Partei und einer ehemaligen terroristischen Vereinigung namens Hüda-Par, die aufgrund ihrer Nähe zur libanesischen Hisbollah als „türkische Hisbollah“ bezeichnet wird. Zudem hat er immer noch ein Wählerpotenzial von rund 30 Prozent der Stimmen. Er kann sich auch der Unterstützung von paramilitärischen Akteuren wie der SADAT und vielen türkischen Mafia-Gruppen sicher sein.
Wie ticken die Unterstützer Erdoğans?
Die AKP und ihre Unterstützer wollen weiterhin den autoritären Charakter des türkischen Staates aufrechterhalten und ihn stärker ausbauen. Sie lehnen eine pluralistische, vielfältige, demokratische Türkei ab und präferieren stattdessen ein nationalistisch-islamistisch orientiertes Land. Sie verachten Minderheiten- und Frauenrechte und wollen bei ihrem Austritt der İstanbuler Konvention bleiben.
Was steht denn für Erdoğan im Endeffekt auf dem Spiel?
Erdoğan hat viel zu verlieren. In den letzten zehn Jahren seiner Amtszeit hat er das Land kaputt gewirtschaftet, die Gesellschaft gespalten und die Türkei in außenpolitische Konflikte hineingezogen. Zudem hat Erdoğan aktuell ein verheerendes Krisenmanagement und totales Staatsversagen beim Erdbeben zu verantworten. Er steht aktuell mit dem Rücken zur Wand. Faktisch ist die Wahl für Erdoğan gelaufen. Deswegen wird Erdoğan alles daransetzen, um die Wahl am 100. Jubiläum der türkischen Republik nicht gegen den von ihm verachtenden Kılıçdaroğlu zu verlieren.
Was könnte er tun?
Er könnte den Hohen Wahlausschuss YSK politisch instrumentalisieren, so wie er die İstanbul-Wahlen wiederholen lassen hat oder die Wahl angesichts seiner schlechten Umfragewerte verschieben lassen. Ein weiterer Plan könnte sein, dass am Wahltag durch die staatliche Agentur Anadolu die Hochrechnungen und das Endergebnis manipuliert wird um im Anschluss seinen Sieg zu proklamieren und dadurch Fakten zu schaffen. Zudem wird auch noch in der türkischen Öffentlichkeit darüber spekuliert, dass Erdoğan einen möglichen Staatsstreich planen könnte, um sich so über das Wahlergebnis hinwegzusetzen.
Ist die Opposition in dieser Hinsicht machtlos?
Die Opposition kann sich gegen diese möglichen Pläne von Erdoğan frühzeitig vorbereiten und die Bevölkerung auf diese möglichen Gefahren sensibilisieren. Wie wir im Fall der Wahlniederlage von Bolsonaro sahen, haben auch seine Gegner das Parlament gestürmt und versucht das Land zu destabilisieren. Die starke Wechselstimmung in Brasilien hat aber dazu geführt, dass Bolsanoro letztlich das Land verlassen musste. Die türkische Opposition muss bei einem möglichen Wahlsieg die Bevölkerung mobilisieren und die Pläne von Präsident Erdoğan durchkreuzen.
Die Opposition hat hierfür erstmalig eine breite Unterstützung in der Bevölkerung. Alle seriösen Umfragen zeigen das. So wie sie damals unter der CHP-Oppositionspolitikerin Canan Kaftancıoğlu bei der Oberbürgermeister-Wahl in İstanbul die Wahlen streng beobachtet und einer Wahlmanipulation entgegengewirkt haben. Den Themen Wahlbeobachtung und Sicherheit der Wahlen kommen daher eine zentrale Rolle bei den bevorstehenden Wahlen in der Türkei zu.
Kann die EU auch ihren Beitrag dazu leisten?
Europa darf sich jetzt nicht einfach zurücklehnen und als neutraler Beobachter dem ganzen Geschehen in der Türkei zuschauen. Die EU und Deutschland sollten ihrer europäischen Verantwortung und ihren europäischen Werten gerecht werden, z. B. sich durch die Entsendung von Wahlbeobachtern durch den Europarat und der OECD aktiv in den türkischen Wahlprozess einbringen. Letztlich geht es um eine Schicksalswahl in der Türkei und die zentrale Frage, ob die Türkei an ihrem 100. Jubiläum wieder zur parlamentarischen Demokratie zurückfindet oder sich langfristig vor den Toren Europas einer Diktatur zementiert. Das wird auch die politische Stabilität und Sicherheit Europas Zukunft gefährden.
Was wird denn überhaupt das Sechser-Bündnis anders machen als Erdoğan?
Ex-Botschafter Ünal Çeviköz, jetziger außenwirtschaftlicher Berater von Kılıçdaroğlu, hat jüngst die Grundzüge der neuen türkischen Außenpolitik des Sechser-Bündnisses in seinem Politico-Interview skizziert. Die Aufhebung der Blockade gegenüber der NATO-Mitgliedschaft Schwedens, die Freilassung von Kavala und Demirtaş, die Europäisierung und Demokratisierung des Landes, die Neujustierung der Russland-Politik und die Änderung der Griechenland-Politik. Diese Maßnahmen erscheinen auch mir höchst konstruktiv und zielführend und werden hoffentlich ein neues Kapitel in den türkisch-europäischen Beziehungen aufschlagen lassen.
Was erwarten Sie nach einem möglichen Wahlsieg der Opposition?
Ich erwarte ein politisches Ausatmen der Bevölkerung. Dass von jetzt auf gleich die Türkei politisch nicht auf die Beine kommt, liegt doch nach 20 Jahren AKP auf der Hand. Letztlich ist die Opposition auch nur ein Zusammenschluss von unterschiedlichen zum Teil gegensätzlichen, politischen Strömungen der Türkei. Hierzu zählen Kemalisten, bürgerlich-konservative Parteien, also die Abspaltungen der AKP wie die Deva und Gelecek Partei, die rechtsnationalistische IYI-Partei und die islamistisch orientierte Saadet Partei. Der Opposition kommen bei einem möglichen Wahlsieg schwere Zeiten zu. Im Land liegen nicht nur die Menschen unter Trümmern, sondern auch die Politik. 20 Jahre AKP-Herrschaft hat einen großen Scherbenhaufen hinterlassen, den die Opposition vermutlich in den nächsten Jahren wegfegen muss. Doch zunächst geht es bei den Wahlen in der Türkei nicht darum, wie auch schon damals die Bolsonaro-Gegner treffend beschrieben haben, „die Tore zum Himmel zu öffnen, sondern um die Tore zur Hölle endgültig zu schließen.“